Die präoperativ erhobene Anamnese und klinische Untersuchung dient der Risikoevaluation von Patienten bezüglich peri- und postoperativer Komplikationen und der optimalen Vorbereitung des Patienten auf den bevorstehenden Eingriff
Wie aber verschiedene Untersuchungen zeigen, ist der klinische Nutzen standardisierter präoperativer Abklärungen insbesondere bei asymptomatischen Patienten fraglich
ASA-Klassifikation (Englisch)
Basisabklärungen
Grundlage der präoperativen Diagnostik sind die vollständig erhobene Anamnese inklusive der Gerinnungsanamnese, die klinische Untersuchung sowie die Ermittlung der körperlichen Leistungsfähigkeit
Idealerweise erfolgt die Anamnese und Untersuchung nach einem standardisierten Schema
Ergeben sich aus der Anamnese und der klinischen Untersuchung unauffällige Ergebnisse (keine relevanten Nebendiagnosen), so sind bei guter Leistungsfähigkeit (>4MET) und niedrigem Operationsrisiko keine weiteren präoperative Tests notwendig
Kann 2 oder mehr Etagen Treppensteigen oder 100m in normalem Tempo geradeaus gehen
4-5
Mässig
Sportliche Aktivität
5-10
Gut
Ausdauer- und Leistungssport
> 10
Gut
Blutungsanamnese
Präoperatives Screeningkonzept
Standardisierter Fragebogen zur Ermittlung eines erhöhten Blutungsrisikos für ambulante Kleinchirurgie
1) Ist bei Ihnen jemals eine Blutgerinnungsstörung festgestellt worden? Hämophilie A/B, von Willebrand Syndrom (Prävalenz 1-2%), anderer Faktoren-Mangel
2) Gibt es in der Familie (Blutverwandtschaft) Fälle von Blutungsneigungen? Hämophilie
3) Besteht ein längeres (>5-10min) oder verstärktes Nachbluten nach Schnittwunden?
4) Besteht ein längeres oder verstärktes Nachbluten beim Zahnziehen? Zahnfleischblutung aufgrund hoher Prävalenz von Peridontitis nicht verwertbar!
5) Hatten Sie schon verstärkte Blutungen während oder nach Operationen?
6) Haben Sie eine schlechte Wundheilung?
7) Häufig Nasenbluten ohne andere Ursachen wie Schnupfen, trockene Luft, starkes Schneuzen?
8) Haben Sie häufig blaue Flecken (Hämatome) oder punktförmige Blutungen (Petechien) an Armen und Beinen oder am Rumpf – auch ohne sich anzustossen?
9) Hatten Sie schon Gelenksblutungen oder Blutungen in Weichteile bzw. Muskeln?
10) Nehmen Sie Medikamente zur „Blutverdünnung“ ein? Sintrom, Marcoumar, Plavix, Efient, Aspirin, Xarelto, …
11) Nehmen Sie Schmerz- oder Rheumamittel ein – auch nicht vom Arzt verschriebene? Aspirin, Alcacyl, Voltaren, Ponstan, Xefo, …
12) Nehmen Sie pflanzliche Mittel ein (Phytopräparate)? Ginseng, Ginko, Ingwer, Cranberry (Moosbeere/Preiselbeere), Knoblauch, (Empfehlung: 10 Tage präoperativ absetzen)
13) Sind Ihre Monatsblutungen verlängert (>7 Tage) und/oder verstärkt (häufiger Binden/Tampon-Wechsel) – seit der Menarche (Hypermenorrhoe)?
Die Blutungsanamnese gilt als auffällig, wenn mindestens eine Frage mit Ja beantwortet wird → genaueres Nachfragen!
Bei unauffälliger Blutungsanamnese kann bei Kleineingriffen auf ein Routinelabor aus anästhesiologischer Sicht verzichtet werden!
Bei Verdacht auf Gerinnungsstörung: Quick, aPTT, Fibrinogen, Tc, PFA-100, Faktor XIII!
Eventuell Kontakt mit Dienst-Hämatologen aufnehmen
Mit diesem Verfahren werden 98% der vorbestehenden Hämostasestörungen erfasst
Fragebogen alleine 90%
Quick/aPTT alleine 5%
Hämostasestörung erst im OP entdeckt → Kosten für Blutprodukte steigen um das 5-fache!
Pupillen (Grösse, Licht-Reaktion, getrennt und im Seitenvergleich)
Bei Verdacht auf neurologische Vorerkrankung orientierende neurologische Untersuchung
Allgemeine klinische Inspektion
Inspektion der entsprechenden anatomischen Region zur Vorbereitung von Regionalanästhesien und Gefässzugängen
Airway
Mallampati-Score
Thyreomentaler Abstand
Unterkiefer-Protrusionstest
Zähne
Nummerierung Zähne
Nummerierung Milchzähne
Kardiovaskuläre Abklärungen
Bei pathologischer Anamnese oder pathologischem Untersuchungsbefund, bei Undurchführbarkeit von Anamnese oder klinischer Untersuchung und bei bestimmten Eingriffen besteht die Indikation für eine weiterführende Abklärung
Zentraler Bestandteil der präoperativen kardialen Evaluation ist das Vorliegen einer akut symptomatischer Herzerkrankung, dem kardialen Risikos des operativen Eingriffs, der funktionellen Leistungskapazität und dem Vorliegen kardialer Risikofaktoren
Die kardiopulmonale Belastbarkeit stellt den wesentlichsten Faktor zur Abschätzung des perioperativen Risikos dar
Im Regelfall genügt eine exakte Patientenbefragung
Die weiterführende Diagnostik erfolgt entsprechend der Anamnese und klinischen Symptomatik
Red Flags
Bei folgenden Herzerkrankungen ist eine weiterführende Diagnostik notwendig und – ausgenommen bei Notfällen – muss die Operation verschoben werden:
Instabiles/akutes Koronarsyndrom
Instabile oder schwere Angina pectoris (CCS III oder IV)
Ein EKG ist bei anamnestisch unauffälligen und kardial asymptomatischen Patienten unabhängig vom Alter nicht indiziert
Träger eines Herzschrittmachers benötigen präoperativ kein EKG, falls der Schrittmacher regelmässig kontrolliert wurde und der Patient keine klinischen Symptome aufweist
Bei kardial asymptomatischen Patienten ist ein EKG unter folgenden Bedingungen empfohlen:
Mittleres OP-Risiko und ≥1 relevante Nebendiagnose
Hohem OP-Risiko
Bei Patienten mit klinischen Symptomen einer koronaren Herzkrankheit, bei Herzrhythmusstörungen, Klappenerkrankungen, Herzinsuffizienz und ICD-Trägern ist ein präoperatives EKG indiziert
Echokardiographie
Im Rahmen der präoperativen Diagnostik, wird die Echokardiographie zur Beurteilung der rechts- und linksventrikulären Pumpfunktion sowie zum Ausschluss von Herzklappendefekten bei Patienten mit Zeichen einer Herzinsuffizienz oder mit pathologischen Herzgeräuschen eingesetzt
Eine präoperative Echokardiographie wird vor nichtkardiochirurgischen Eingriffen nur bei Patienten mit neu aufgetretener Dyspnoe unklarer Genese sowie bei Patienten mit bekannter Herzinsuffizienz und Symptomverschlechterung innerhalb der letzten 12 Monaten empfohlen
Vor Eingriffen mit einem mittleren oder hohen OP-Risiko, ist bei Patienten mit nicht bekannten oder bislang nichtabgeklärten Herzgeräuschen auch bei normaler Belastbarkeit eine Echokardiographie in Rücksprache mit dem Kardiologen zu erwägen
Die Durchführung nichtinvasiver kardialer Belastungstests erscheint nur sinnvoll bei Patienten mit ≥3 klinischen Risikofaktoren (s. 2.2.1) und eingeschränkter bzw. unbekannter Belastbarkeit (<4 MET) vor einer Hochrisikooperation
Bei Patienten mit 1-2 klinischen Risikofaktoren und eingeschränkter (<4 MET) bzw. unbekannter Belastbarkeit vor einer Operation mit mittlerem oder hohem kardialen Risiko, kann ein nichtinvasiver kardialer Belastungstest erwogen werden
Abklärung beim kardialen Risikopatienten
Vorgehen nach koronarer Revascularisation
Art der PTCA
Minimale Karenzzeit vor nicht-dringlichen Eingriffen
Ballonangioplastie
1 (2) Wochen
Bare Metal Stent
6 Wochen
Drug Eluting Stent*
12 Monate (6 Monate)
*je nach Situation mit Kardiologen besprechen
Sonographie Halsgefässe
Bei Patienten mit ischämischem Insult oder einer transitorischen ischämischen Attacke innerhalb der letzten 3 Monaten, welche weder adäquat abgeklärt noch operativ/interventionell versorgt wurde, ist aufgrund des hohen Rezidivrisikos die Indikation für eine sonographische Kontrolle der Halsgefässe gegeben
Bei Patienten vor einem grossen arteriellen gefässchirurgischen Eingriff sollte eine präoperative Sonographie der Halsgefässe erwogen werden, da bei diesem Patientenkollektiv die Häufigkeit von Stenosen der Arteria carotis erhöht ist
Pulmonale Abklärung
Thoraxröntgen
Die Durchführung eines präoparativen Thoraxröntgen ist nur dann empfohlen, wenn auch klinisch die Indikation dafür besteht
Bei Patienten mit bekannter und behandelter pulmonaler Erkrankung (COPD, Asthma, etc) ist bei stabilem Verlauf präoperativ kein Thoraxröntgen erforderlich
Somit sollte ein Thoraxröntgen durchgeführt werden, wenn der Verdacht auf eine exazerbierte oder akute, neu aufgetretenePneumopathie vorliegt oder eine entsprechende Relevanz für den operativen Eingriff besteht, wie zum Beispiel Thoraxchirurgie, grosse Struma oder Thoraxdeformität
Lungenfunktionstest
Eine präoperative Lungenfunktionsdiagnostik ist nur bei Patienten mit neu aufgetretenen bzw. Verdacht auf akut symptomatische pulmonale Erkrankungen zur Schweregradeinschätzung und Therapiekontrolle indiziert
Bei Patienten mit bekannten und stabilen pulmonalen Erkrankungen (z.B. COPD, Asthma, OSAS) ist keine erweiterte Diagnostik notwendig
Die präoperative Labordiagnostik hat zum Ziel, den Schweregrad bestehender Erkrankungen abzuschätzen
Die labormedizinische Diagnostik erfolgt entsprechend der Anamnese und der Operationskategorie
Eine routinemässige Durchführung von Laboruntersuchungen ist nicht empfohlen
Gerinnungsdiagnostik ist nur empfohlen bei entsprechender Medikamentenanamnese (orale Antikoagulanzien, etc) sowie bei klinischem Verdacht auf eine Gerinnungsstörung (positive Blutungsanamnese)
Blutbilduntersuchung
Grosse Eingriffe, insbesondere bei hoher Transfusionswahrscheinlichkeit
Dauermedikation mit ACE-Hemmern, Angiotnesin-II-Antagonisten, Diuretika, Kortikoiden, Antidepressiva oder Digitalis
Serumkreatinin
Grosse Eingriffe
Anamnestische Hinweise auf Nierendysfunktion, Leberzirrhose, Diabetes mellitus, sowie erhöhtem kardialem Risko, eingeschränkter Belastbarkeit <4 MET oder laufender Chemo-/Radiotherapie
Dauermedikation mit ACE-Hemmern, Angiotnesin-II-Antagonisten, Diuretika, Kortikoiden, oder geplanter intraoperativer Kontrastmittelgabe
Leberfunktionsparameter
ASAT, ALAT, g-GT, Bilirubin, alk. Phos., Quick
Leberdysfunktion
Operation an Leber
Blutzucker
Grosse Eingriffe
Dauermedikation mit Kortikosteroiden
Bekannter Diabetes mellitus
HbA 1C bei bekanntem Diabetes mellitus und gleichzeitig grossem Eingriff
Schildrüsenhormone
Schildrüsendysfunktion
Blutgruppe und Antikörpersuchtest
Grosse Eingriffe mit erwartetem Blutverlust ≥ 500ml
Risiko für grössere Blutverluste
Blutgerinnungsanalytik
Bei unauffälliger Blutungsanamnese und klinischem Untersuchungsbefund ist bei ASA 1-2 Patienten keine labormedizinische Blutgerinnungsanalytik erforderlich
Bei auffälliger Medikamentenanamnese durch Einnahme von Antithrombotika mit erheblichem Blutungsrisiko zur Quantifizierung der Wirkung oder bei eingeschränkter Elimination
Bei Patienten mit bekannter angeborener/erworbener Gerinnungsstörung und bei einem unklar pathologischen Blutgerinnungsbefund soll präoperativ eine interdisziplinäre Optimierung eingeleitet werden.
Umgang mit Dauermedikation
Kreislaufwirksame Medikamente
β-Blocker und Nitrate
Eine antianginöse, antihypertensive oder antiarrhythmische Therapie sollte in aller Regel perioperativ fortgeführt werden. Dies gilt besonders für β-Blocker und Nitrate, da hier ein Absetzen der Therapie eine Myokardischämie mit Myokardinfarkt auslösen kann.
Kalzium-Antagonisten
Eine bestehende Therapie mit Kalzium-Antagonisten wird in der Regel weitergeführt
Diuretika
Die Diuretikatherapie sollte am Operationstag weggelassen werden
Insbesondere bei Patienten mit Herzinsuffizienz sollte aber die Therapie mit Diuretika postoperativ so rasch wie möglich weitergeführt werden
ACE-Hemmer und AT-II-Rezeptorantagonisten sollten am Operationstag weggelassen werden
Digitalisglykoside
Digitalisglykoside zur Therapie einer chronischen Herzinsuffizienz werden wegen ihrer geringen therapeutischen Breite, schlechten Steuerbarkeit und arrhythmogenen Potenz am Operationstag abgesetzt
Eine Dauertherapie mit Statinen sollte perioperativ weitergeführt werden, da sie vulnerable Plaques stabilisieren, antiinflammatorisch wirken, die Thrombusbildung hemmen und die Inzidenz von Ischämien, Infarkten und Todesfälle bei Patienten mit koronarem Risiko senken
Bei gefässchirurgischen Patienten ohne bisherige Medikation mit Statinen wird empfohlen, 1-4 Wochen präoperativ mit einer Prophylaxe zu beginnen
Thrombozytenaggregationshemmer und orale Antikoagulantientherapie
Das Absetzen einer antithrombozytären Therapie setzt Patienten mit gesicherter Indikation für die Therapie einem erhöhten Risiko für thromboembolische Komplikationen aus
Das Risiko für Thromboembolien bei perioperativer Unterbrechung der Antikoagulation muss in jedem Einzelfall gegen das perioperative Blutungsrisiko abgewogen werden und sollte immer in Rücksprache mit dem Operateur stattfinden.
Periinterventionelles Management bei Patienten mit Thrombozytenaggregationshemmern
Die vorliegenden Schemata gelten als Illustration, da in jedem Einzelfall die Risiken einer Pausierung der Thrombozytenaggregationshemmung gegenüber dem Blutungsrisiko abgewogen werden muss
Im Allgemeinen gilt: Aspirin/Plavix-Stopp soll Ausnahme und nicht Regel sein
Periinterventionelles Management bei Patienten unter Vitamin-K-Antagonisten
Psychopharmaka
Bei Patienten mit Psychosen oder neurologischen Erkrankungen sollte die Dauermedikation im Regelfall nicht unterbrochen werden
Bei einigen Psychopharmaka bestehen problematische Arzneimittelwechselwirkungen, welche perioperativ beachtet werden müssen
Trizyklische Antidepressiva
Trizyklische Antidepressiva hemmen die Wiederaufnahme von Dopamin, Noradrenalin und Serotonin im Zentralnervensystem und in den peripheren Geweben, was bei chronischer Einnahme zu einer Entleerung der zentralen Katecholaminspeicher und einem erhöhtem adrenergen Tonus führt
Somit ist die Wirkung von Ephedrin vermindert und von Noradrenalin eher verstärkt
Serotonin- Wiederaufnahmehemmer (SSRI)
SSRI sollten perioperativ aufgrund eines möglichen Entzugssyndroms nicht abgesetzt werden
Zu beachten ist jedoch, dass es unter der Medikation mit SSRI bei gleichzeitiger Gabe von Medikamenten, welche die Wiederaufnahme von Serotonin hemmen oder serotomimetisch wirken (Pethidin, Tramadol, MAO-Hemmer), zum Serotonin-Syndrom mit Hyperthermie, vegetativer Instabilität und Bewusstseinsstörungen bis zum Koma kommen kann
Monoaminoxidase-Hemmer
Irreversibel wirkende MAO-Hemmer sollten mindestens zwei Wochen präoperativ gestoppt und durch reversible ersetzt werden
Bei Beachtung der absoluten Kontraindikationen für Pethidin und Tramadol sowie Vermeidung von Hypoxie, Hypercarbie und arterieller Hypotonie und dem Verzicht auf indirekte Sympathomimetika (Ephedrin) wird ein Absetzen von MAO-Hemmern präoperativ nicht mehr als erforderlich angesehen
Lithium
Lithium sollte 72h präoperativ gestoppt werden
Ist der Patient postoperativ hämodynamisch stabil und die Elektrolyte im Normbereich, kann mit der Lithiumtherapie weitergefahren werden
Die Wirkung von depolarisierenden und nicht-depolarisierenden Muskelrelaxantien ist inkonstant verlängert
Antiepileptika
Antiepileptika sollen perioperativ fortgesetzt werden
Anti-Parkinson- Medikamente
Die Halbwertszeit von L-Dopa ist kurz, und eine Unterbrechung der Therapie von 6-12h kann eine schwere Muskelrigidität oder eine Parkinsonkrise mit vital bedrohlicher Symptomatik wie Schluck und Ventilationsstörungen zur Folge haben
Somit sollte die Therapie mit L-Dopa bis unmittelbar zur Operation weitergeführt und postoperativ so rasch wie möglich wieder aufgenommen werden
Kortikosteroide
Patienten unter einer Steroiddauertherapie sollten ihre übliche Steroidmedikation am Morgen der Operation zu sich nehmen